
Ich habe gerade diese Entscheidung des OLG Frankfurt am Main auf LTO gefunden, wonach eine Richterin wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wurde, weil versehentlich ein Urteilsentwurf an die Parteien versandt wurde.
Die abgelehnte Vorsitzende Richterin hat als Einzelrichterin im Verhandlungstermin vom 26.11.2024 Verkündungstermin auf den 21.1.2025 bestimmt. Mit Verkündungsprotokoll vom 22.4.2025 (richtig wohl 21.1.2025) wurde den Parteien ein unvollständiger Urteilsentwurf zugestellt. Neben dem Urteilskopf und einem vollen Rubrum enthält der Entwurf einen vollständig ausformulierten Hauptsachetenor, nach dem die Beklagten verurteilt werden, das von ihnen innegehalten Gartengrundstück zu räumen und an den Kläger herauszugeben. Im nachfolgenden Kostentenor werden den Beklagten die Kosten des Rechtsstreits auferlegt. Es schließen sich ein fragmentarischer Tatbestand und ebensolche Entscheidungsgründe an. Wegen des genauen Inhalts wird auf Bl. 325 ff. d. eAkte verwiesen. Sowohl das Verkündungsprotokoll als auch der Urteilsentwurf sind von der abgelehnten Vorsitzenden Richterin signiert. (OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 4.6.2025 – 9 W 13/25, BeckRS 2025, 13979 Rn. 2, beck-online)
Umgekehrte Eheschließungen
Ich halte die Entscheidung nicht für sonderlich überzeugend. Es kommt aber auch ein bisschen darauf an. Das Versenden von Entscheidungsentwürfen ist zumindest an den Amtsgerichten kein unüblicher und ein Stück weit auch notwendiger Vorgang. In Scheidungssachen, bei denen ein Versorgungsausgleich vorzunehmen ist, ist es schlicht am einfachsten, den Parteien den vorbereiteten Scheidungsbeschluss zu übersenden, sodass alle noch einmal nachrechnen können, ob der Versorgungsausgleich korrekt vorgenommen wurde. Stellt sich nämlich hinterher heraus, dass man irgendeinen blöden Rechenfehler gemacht hat, bleibt den Parteien (oder den Versorgungsträgern) nur die Beschwerde zum OLG, wo sich dann alle anschauen und fragen, warum jetzt die Korrektur des Beschlusses eine ganze Instanz (und weitere Kosten) produziert. Die Kollegen am OLG haben auch Besseres zu tun.
Schnellfahren bis der Arzt kommt, nur dass er Polizist ist und ein Messgerät dabei hat
Auch in Bußgeldsachen ist es schlicht einfacher, Entscheidungsentwürfe zu übersenden. Angenommen, man ist viel zu schnell unterwegs gewesen und erhält im Bußgeldbescheid neben einem hohen Bußgeld (320 €) auch noch die volle Breitseite der staatlichen Gesundheitsfürsorge auferlegt (vulgo: einen Monat oder mehr laufen, Rad fahren etc.), dann sieht § 4 Abs. 4 BKatV die Möglichkeit vor, von der Anordnung des Fahrverbots ausnahmsweise gegen Erhöhung des Bußgeldes abzusehen. Üblicherweise wird das Bußgeld verdoppelt (640 €), und man muss das Auto keinen Monat stehen lassen. Dieses Ergebnis kann man dann ohne Hauptverhandlung durch Beschluss herbeiführen. Da viele Anwälte dem Beschlussverfahren schon im Voraus „gegen angemessene Erhöhung des Bußgeldes“ zustimmen, hat man als Richter jetzt zwei Möglichkeiten: 1. Man erteilt einen Hinweis, dass man beabsichtigt, die „angemessene Erhöhung“ in Form der Verdopplung vorzunehmen, oder 2. man macht gleich alles unterschriftsreif fertig und übersendet einen Beschlussentwurf, den man dann bei Zustimmung der Parteien einfach unterschreibt – und fertig. Das spart zwar nur minimal Aufwand (ein separates Schreiben weniger; übersenden müsste man aber sowohl Schreiben als auch Beschlussentwurf, lediglich das physische bzw. digitale Erstellen fällt weg). Das Bußgeldverfahren ist aber ein Massenverfahren – da machen minimale Einsparungen in der Masse durchaus etwas aus. Kein Anwalt der Welt käme auf die Idee, man sei da auf die „angemessene Erhöhung“ festgelegt, nur weil man einen Entwurf statt eines Schreibens übersendet hat. In geeigneten Fällen erzählen einem die Anwälte dann schon, warum nun ausgerechnet die Verdopplung aber viel zu viel für den Mandanten ist. Das kann man sich dann noch einmal überlegen – oder eben nicht.
Nagut dann gilt die Entscheidung des Senats nur im Zivilrecht, oder? ODER?
Selbst im Zivilrecht passt die Entscheidung nicht wirklich. Prüft man einen Fall und will die rechtlichen Fallstricke den Parteien mitteilen, erteilt man sogenannte Hinweise: „Der Kläger wird darauf hingewiesen, dass die Klage unzulässig ist, weil das Gericht nicht sachlich zuständig ist; zuständig ist vielmehr das Amtsgericht, weil [Mietsache über Wohnraum].“ Hier gibt es jetzt zwei Möglichkeiten: Man irrt sich, dann sagt einem der Kläger, warum man sich irrt, oder man irrt sich nicht. Dann schreibt man in aller Regel den Hinweis so, dass man das einfach in ein Urteil kopieren kann. Aus dem Umstand, dass man da jetzt nicht „Schreiben“, sondern „Urteilsentwurf“ drüberschreibt, zieht der Senat nun, dass man da aber aus Sicht einer Partei arg festgelegt wirkt. Als hätten die meisten Anwälte (und die dahinterstehenden Mandanten) das Gefühl, nach Hinweisen des Gerichts nicht unabhängig zu sein – unabhängig davon, ob da „Schreiben“ oder „Urteilsentwurf“ drübersteht. Man könnte natürlich einwenden, dass „Urteilsentwurf“ irgendwie finaler klingt als „rechtlicher Hinweis“. Ich halte das nur für Semantik. Entscheidend ist m. E. der Umstand, dass der Urteilsentwurf die Parteien in die Lage versetzt, ganz zielgenau auf die rechtliche Argumentation des Gerichts Einfluss zu nehmen. Der übersendete Entwurf ist gerade der genaueste Hinweis. Ich vermute mal, dass es bei einer Einzelmeinung eines einzelnen Senats eines Oberlandesgerichts bleiben wird. Die Anwälte kennen die von mir geschilderten Vorgänge ja auch.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.