Auf LTO bin ich auf einen Artikel zur digitalen Zukunft des (Zivil-)Prozesses gestoßen.
Die wesentlichen Punkte lauten:
- Die Gestaltung des Prozesses solle sich am Nutzer, also zuvörderst an den rechtssuchenden Bürgern
- Die Digitalisierung solle nicht lediglich analoge Vorgänge abbilden
- Rechtssuchende scheuen den Gang zu Gericht derzeit bis Streitwerten von 1.950 €
- Es bedürfe neuer Zugänge zum Recht, da die derzeitigen nicht genutzt würden.
Diese Punkte werden im Zusammenhang der Digitalisierung stets vorgetragen und sind an sich nichts Neues. Gerade der zweite Punkt kommt bei der derzeitigen Digitalisierung faktisch nicht vor und beschäftigt die Gerichte bis 2026, wenn dann auch die elektronische Strafakte kommen soll. Die mir bekannten digitalen Systeme der Justiz sind faktisch „.doc(x)-Wiesen“, also schlichte Sortierprogramme, für abgespeicherte Word-Dateien. Überwiegend sind darin auch Vorlagen abgespeichert.
Andere Probleme …
Zentraler Denkanstoß des Artikels soll aber wohl sein, dass mehr versucht wird, statt zuerst einen perfekten Plan auszuarbeiten. Auch diese Anregung kann ich nur unterstützen. Ich befürchte aber, dass die Autoren des Artikels in die falsche Richtung denken. Der Zugang zum Recht scheitert m.E. nicht daran, dass den Bürgern der Weg zu Gericht so schwer fällt oder dass sie mit dem Begriff „Klageantrag“ nichts anfangen können. Hier legen die Gerichte sehr großzügig alles aus, was reinkommt. Auch ob ein Chatbot tatsächlich den Zugang erhöht, wage ich auch zu bezweifeln, wenn man kostenlos mit dem Rechtspfleger auf der Rechtsantragsstelle reden kann (wobei das nur beispielhaft von den Autoren ins Feld geführt wurde).
Das eigentliche Problem liegt doch in den Kosten des Prozesses und der Verkomplizierung auch alltäglicher Rechtsprobleme: Wenn mich ein einzelner Verkehrsunfall mit einem Sachschaden von 1.000 € noch mal 3.000 € an Sachverständigenkosten kostet, liegt es sicherlich nicht an 159 € Gerichtskosten, die mich abhalten, ohne das ein Anwalt beteiligt ist. Hinzu kommt eine Prozessdauer von 9 Monaten, wenn alles glatt läuft (eine Instanz, Sachverständiger hat Zeit, ein Termin zur mündlichen Verhandlung). In der Zeit haben wohl die meisten die 1.000 € „abgeschrieben“ (d.i. sich damit – viele auch zähneknirschend – abgefunden).
Andere Lösungsvorschläge…
Den Zugang zum Recht könnte man ja probeweise einmal dadurch versuchen zu vereinfachen, dass man den Bürgern „Freiklagen“ einräumt. Beginnen wir doch mit 3 Verfahren im Jahr, die der Bürger kostenlos bis zu einem Streitwert von 10.000 € erheben kann. (Bis zu diesem Streitwert sollten auch die Amtsgerichte zuständig sein. Die 5.000 € Grenze ist unglaublich antiquiert.) Im zuvor genannten Beispiel sicherlich nur der Tropfen auf dem heißen Stein. Aber es würde die Querulanten verhindern und die Justizkassen nicht allzu sehr belasten. Ferner bedürfte es eines „Alltagsprozesses“ in dem die Rechtsprüfung und die Tatsachenprüfung deutlich „reduziert“ sind. Wer meint, es sei für die Gerechtigkeit erforderlich im Verkehrsunfallprozess mit 700 € Streitwert Begriffe wie Sachverständiger, Baumbach, gewillkürte Prozessstandschaft, Abtretungsverbote, Quotenvorrecht , Typenklasse des geschädigten Fahrzeugs, Frauenhofer/Schwacke/Fracke und wirtschaftlicher Totalschaden in den Mund nehmen /aufs Papier schreiben zu müssen, der entfernt auch eine Wimper unter Vollnarkose, nach Entfernung und Wiedereinsetzung des Auges. Am Ende sind alle blind, aber die Wimpern sind definitiv raus.
Andere Konsequenzen?
Wie schlimm kann das schon werden? Angenommen der Richter macht alles falsch: Kein Sachverständiger, kein Baumbach, kein Fracke, der Kläger verliert 700 €. Urteil eine Totalkatastrophe. Gekostet hat es den Bürger nichts und das Urteil war 3 Wochen, nach dem die gegnerische Versicherung (die ja auch prüft) die Regulierung verweigerte, auf dem Tisch. Total richtig (im derzeitigen unfehlbaren System) wäre in dem Fall gewesen: Sachverständigen den Unfall nachstellen lassen, Schaden ebenfalls durch Sachverständigen ermitteln, Haftung verteilen mit dem Ergebnis, dem Kläger stehen 400 € zu, also 4/7. Die Beklagten unterliegen also mit 3/7 (jeder Referendar fängt jetzt an zu zittern). Das Urteil ist nach 9 Monaten da, der Sachverständige rechnet 3.000 € ab, von denen der Kläger 1.285,70 € zahlt und die Beklagten (Versicherung und Unfallverursacher) als Gesamtschuldner 1.714,30 €. Hinzu kommen die Anwälte und die Gerichtskosten, das überlasse ich aber den Referendaren.
Andere Welt…
Richter sind jedoch nicht so blöd, dass jedes Urteil eine Totalkatastrophe ist. Viel wahrscheinlicher ist es, dass der erste Schuss des Richters gar nicht so weit vom Ergebnis entfernt ist; nicht weil der Richter das am Ende auch rausbekommen will, sondern weil die Ermittlungen des Sachverständigen das am Ende ergeben. Ich habe schon einen Bauprozess gesehen, der mit einem Vorschlag begann, der vom Urteil nach 5 Jahren Prozess 700 € entfernt war. Die Sachverständigenkosten gingen in den mittleren fünfstelligen Bereich. Statt das wir also immer neue Instrumente entwickeln (ADR und ODR und wie sich das alles schimpft und – Überraschung – nicht genutzt wird), sollten wir mal daran arbeiten, nicht bei jedem Schnulli* das ganz große Besteck auszupacken. So kriegt der Bürger Rechtsschutz in kurzer Zeit zu angemessen Kosten. Wem das zu ungerecht ist, der möge eben vereinfachte Rechtsmittelmöglichkeiten schaffen. Die meisten beschreiten diesen Weg dann ohnehin nicht mehr.
*Schnulli soll hier nicht das Anliegen des Bürgers abwerten. Natürlich sind 700 € für jemanden mit Mindestlohn viel Geld. Aber faktisch kommt dieser jemand im derzeitigen System nicht zu seinem Recht, weil er sich weder den Prozess noch die Strapazen eines mehrmonatigen Prozesses neben seiner Arbeit antuen will/kann. Ihm ist mit einem „kurzen“ billigen Verfahren viel mehr geholfen.
„Das eigentliche Problem liegt doch in den Kosten des Prozesses und der Verkomplizierung auch alltäglicher Rechtsprobleme: Wenn mich ein einzelner Verkehrsunfall mit einem Sachschaden von 1.000 € noch mal 3.000 € an Sachverständigenkosten kostet, liegt es sicherlich nicht an 159 € Gerichtskosten, die mich abhalten, ohne das ein Anwalt beteiligt ist.“
Die Kosten sind aber doch tatsächlich anfallende Kosten, und ist die „Verkomplizierung“ nicht zumindest in erheblichem Anteil das Ergebnis des Wunsches, „sein Recht“ erhalten zu wollen, koste es, was es wolle?
„Den Zugang zum Recht könnte man ja probeweise einmal dadurch versuchen zu vereinfachen, dass man den Bürgern „Freiklagen“ einräumt. Beginnen wir doch mit 3 Verfahren im Jahr, die der Bürger kostenlos bis zu einem Streitwert von 10.000 € erheben kann.“
Das erscheint mir kaum geeignet, den Zugang zum Recht zu vereinfachen. Wie viele (Zivil-)Klagen erhebt denn ein Bürger üblicherweise im Jahr? Im Schnitt doch wohl weit weniger als eine oder auch nur eine alle drei Jahre. Es gibt daher wohl wenig Anlass, dann nicht eine Klage alle 5 oder 10 Jahre, sondern direkt 3 Klagen im Jahr kostenlos zu ermöglichen – es sei denn, man glaubt, Verfahren lassen sich schneller erledigen, wenn sich die Anzahl der eingehenden Klagen vervielfacht. 🙂
„Aber es würde die Querulanten verhindern und die Justizkassen nicht allzu sehr belasten.“
Wohl kaum. Wenn im Schnitt nur jeder zweite Erwerbsfähige nur eine kostenlose Klage pro Jahr erhebt, wären das mehr als 25 Mio. Zivilverfahren. Das wäre fast das 20fache der derzeitigen Gesamteingänge – und klar, wenn’s nichts kostet, dann klagt es sich leicht – auch wenn es nur um einen kleinen Parkrempler geht, oder die nicht gelieferte Ware bei Ebay für 12,50 EUR, oder die Beleidigung auf Facebook.
„Ferner bedürfte es eines „Alltagsprozesses“ in dem die Rechtsprüfung und die Tatsachenprüfung deutlich „reduziert“ sind.“
Dafür gibt es ja bereits das Verfahren nach § 495a ZPO.
„Wer meint, es sei für die Gerechtigkeit erforderlich im Verkehrsunfallprozess mit 700 € Streitwert Begriffe wie Sachverständiger, Baumbach, gewillkürte Prozessstandschaft, Abtretungsverbote, Quotenvorrecht , Typenklasse des geschädigten Fahrzeugs, Frauenhofer/Schwacke/Fracke und wirtschaftlicher Totalschaden in den Mund nehmen /aufs Papier schreiben zu müssen, der entfernt auch eine Wimper unter Vollnarkose, nach Entfernung und Wiedereinsetzung des Auges.“
Ist es denn nicht so, dass genau dieser Ablauf von den Parteien herbeigeführt wird? Niemand ist gezwungen, solche Prozesse durchzustreiten; man kann sich auch schlicht nach Aktenlage vergleichen. Es ist kaum anzunehmen, dass es den Zugang zum Recht erleichtert oder verbessert, wenn den Parteien eine Sachaufklärung verboten wird.
Es ist ja möglich, sich zu vergleichen. Es ist möglich, Streitigkeiten außergerichtlich beizulegen. Und es ist – aus den geschilderten Gründen – auch oft finanziell vorteilhaft, das zu tun. Wenn aber stattdessen die Sache „ausgestritten“ werden soll, obwohl das länger dauert, obwohl das ggf. mehr kostet als voraussichtlich zu gewinnen ist, dann doch deshalb, weil die Parteien (oder zumindest eine der Parteien) das so wollen. Die „Lösung“ kann dann doch nicht sein, ihnen diesen Weg zu versperren, damit sie diesen Weg dann eher nutzen?
„Viel wahrscheinlicher ist es, dass der erste Schuss des Richters gar nicht so weit vom Ergebnis entfernt ist; nicht weil der Richter das am Ende auch rausbekommen will, sondern weil die Ermittlungen des Sachverständigen das am Ende ergeben.“
Aber das KÖNNEN die Parteien ja, wenn sie das wollen.
„sollten wir mal daran arbeiten, nicht bei jedem Schnulli* das ganz große Besteck auszupacken. So kriegt der Bürger Rechtsschutz in kurzer Zeit zu angemessen Kosten. Wem das zu ungerecht ist, der möge eben vereinfachte Rechtsmittelmöglichkeiten schaffen.“
Wir ersetzen also die Möglichkeit, sich zu vergleichen – bzw. direkt ein Güteverfahren zu nutzen – oder stattdessen eine Beweisaufnahme durchzuziehen, durch die Möglichkeit, eine Pi-mal-Daumen-Abschätzung des Richters zu erhalten oder ins Rechtsmittel zu gehen. Der Gewinn dabei, die Beweisaufnahme in erster Instanz durch eine Beweisaufnahme in zweiter Instanz zu ersetzen, ist mir nicht recht ersichtlich.
Du hättest recht, wenn die Quote der Berufungen im Zivilprozess signifikant wäre. Die Quote der Berufungen zeigt aber vielmehr, dass die Parteien mit dem Ausgang der ersten Instanz meist zufrieden sind. Da kämpft keiner um das „Recht, koste es was es wolle“. Daher meine These: Ein ordentliche begründete Daumenpeilung des Richters und ein erstinstanzliches Urteil nach kurzer Zeit wird nicht wie von dir vorhergesagt, zur Beweisaufnahme in 2. Instanz führen. § 495a ZPO ist ein schlechter Scherz, der nur dazu genutzt wird, die wichtigste Erkenntnisquelle in Alltagsverfahren zu ersparen. Und selbst in reinen „Professionellenprozessen“ habe ich es schon erlebt, das Vortrag ganz anders gemeint und zu verstehen war. Wenn die Parteien wollen, brauche ich überhaupt keine Gerichte. Die absolute Mehrzahl aller Verkehrsunfälle wird von den Versicherungen reguliert. Von den paar Sachen die übrig bleiben, vergleichen die Anwälte heute den Großteil weg. Was dann bei Gericht landet hat längst das Stadium des Vergleichs hinter sich gelassen. Die Parteien machen nichts mehr (an prozessualen Vereinfachungen) mit, obwohl das in sehr vielen Fällen unsinnig ist. Und das wissen die Parteien spätestens, wenn ihr Rechtsanwalt den Vorschuss für die Berufung mit dem Kommentar verlangt, das die Erfolgsaussichten zwar für einen Teil gegeben sein mögen, der Vorderrichter aber wohl nicht so weit daneben lag.
Wir haben also ganz offensichtlich völlig unterschiedliche Wahrnehmungen der Fälle, die vor Gericht landen und wie diese ablaufen. Es wäre daher eigentlich sehr gewinnbringend, wenn wir uns gemeinsam Verhandlungen anschauen, an denen konkret der jeweilige Standpunkt verdeutlicht werden kann.