Als ich diesen LTO Bericht gelesen habe, dachte ich zuerst an ein kleines Erdbeben, sollte sich der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwaltes Manuel Campos Sánchez-Bordona anschließen.
In aller Kürze: Es ging um einen europäischen Haftbefehl, der von der Staatsanwaltschaft Lübeck stammte. Der Beschuldigte sitzt in Irland in Untersuchungshaft und sollte nach Deutschland überstellt werden. Hiergegen wehrte er sich jedoch mit dem Argument, die Staatsanwaltschaft Lübeck sei keine unabhängige Justizbehörde im Sinne der Rahmenrichtlinie und dürfe daher keine Haftbefehle erlassen.
Recht und Wirklichkeit fallen hier in der Tat auseinander. Nach dem Gesetz ist die Staatsanwaltschaft nicht unabhängig. Sie ist Teil der hierarchisch organisierten Exekutive und damit auch weisungsgebunden.
Rein tatsächlich ist die Staatsanwaltschaft aber unabhängig, was mittelbar aus § 152 StPO und § 160 StPO folgt. Diese Vorschriften stellen inhaltliche Anforderungen an die Arbeit der Staatsanwaltschaft, insbesondere verpflichtet § 160 Abs. 2 StPO auch die den Beschuldigten entlastenden Umstände zu ermitteln.
Unabhängig davon werden Staatsanwälte aber auch tatsächlich sehr unabhängig tätig. Inhaltliche Weisungen sind nach meinen Erfahrungen (von außen betrachtet) die absolute Ausnahme.
All das darf aber natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die faktisch unabhängig arbeitenden Staatsanwälte diesen Status nicht verbrieft haben. Darauf kommt es aber dem Generalanwalt, richtigerweise, an. Mich hat ja tatsächlich verwundert, dass beim Erlass eines europäischen Haftbefehls kein Richter beteiligt werden muss. Ein Missstand, den es abzuschaffen gilt.
Noch schöner wäre Abschaffung des Missstandes, dass das Justizministerium dem Generalstaatsanwalt gegenüber weisungsbefugt ist.
„Ein Missstand, den es abzuschaffen gilt.“
Tatsächlich? – Ich verstehe die rechtstheoretischen Erwägungen des Generalanwalts, aber ehrlich gesagt nicht den darin gesehenen Missstand.
Einem durch die Staatsanwaltschaft ausgestellten europäischen Haftbefehl liegt ja immer ein nationaler Haftbefehl (in der Regel ein sog. „internationaler Haftbefehl“, d.h. ein Haftbefehl ohne Abkürzungen mit einem Anhang, der die in Bezug genommenen Vorschriften wiedergibt, mit voller Unterschrift des Richters und Siegel auf jedem Exemplar, also Originale, keine Ausfertigungen) zugrunde. Der „europäische Haftbefehl“ ist ungeachtet seiner leicht irreführenden Bezeichnung ein formalisiertes Festhalte- und Auslieferungsersuchen auf der Grundlage eines bestehenden richterlichen Haftbefehls.
Warum ein Gericht, das bereits die Festnahme und Inhaftierung des Beschuldigten angeordnet hat, nun nochmals bestätigen soll „ja, bitte auch im Ausland festhalten und dann ausliefern“, erschließt sich mir ehrlich gesagt nicht so wirklich – zumal diese Notwendigkeit außerhalb des Geltungsbereich des europäischen Haftbefehls nicht besteht. Da erfolgen das Festhalten, die Auslieferungshaft und dann ggf. die Auslieferung aufgrund einer Interpol-Ausschreibung auf Basis des nationalen Haftbefehls, völlig unstreitig ohne die erneute Befassung eines Richters.
Auch erscheint mir in der Praxis der Gedanke einigermaßen fernliegend, der Haftrichter werde im einzelnen das Erfordernis gegenseitiger Strafbarkeit (überhaupt oder) gründlicher prüfen als die Rechtshilfedezernentin oder (bei größeren Staatsanwaltschaften) die Rechtshilfeabteilung, die regelmäßig in diese Spezialmaterie eingearbeitet und darin erfahren sind.
Die (veröffentlichte) Argumentation: „Es wäre widersinnig, wenn sie nicht die weniger einschneidende Maßnahme (die Ausstellung eines kurzzeitig wirkenden nationalen Haftbefehls), wohl aber die einschneidendere Maßnahme (die Ausstellung eines EHB, der zu einer weitaus längeren Freiheitsentziehung führen kann) treffen könnte“ verstehe ich im Übrigen nicht. Selbstverständlich ist der nationale Haftbefehl die einschneidendere Sanktion: er ist einerseits überhaupt erst die Grundlage des Auslieferungsersuchens in Form des europäischen Haftbefehls, und regelmäßig ist zudem die Haftzeit aufgrund des nationalen Haftbefehls (hoffentlich) länger als die Auslieferungshaft. Eine internationale Fahndung erfolgt nur bei gravierenderen Straftaten, also längst nicht in jedem Fall, in dem eine nationale Fahndung aufgrund eines Haftbefehls besteht, so dass davon auszugehen ist, dass die Inhaftierung (nach Auslieferung) regelmäßig bis zur Rechtskraft eines Urteils und damit über Monate erfolgt, die Auslieferungshaft aber doch hoffentlich eine Frage von Tagen oder Wochen ist.
Kurz gefasst:
– Ein europäischer Haftbefehl ist kein Haftbefehl im eigentlichen Wortsinn, sondern eine formalisierte Form des vereinfachten Auslieferungsersuchens mit internationaler Fahndung.
– Er basiert auf einem nationalen Haftbefehl, der durch einen Richter erlassen wurde. Der Gewinn, der darin liegen würde, dass derselbe Richter zugleich auch den europäischen Haftbefehl erlässt,. erschließt sich mir nicht. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Prüfung des Erfordernisses der gegenseitigen Strafbarkeit (die im Übrigen auch der Auslieferungsstaat noch einmal prüft – ich erinnere an den Fall Puigdemont).
– Es drängt sich mir (jenseits der fehlenden Sinnhaftigkeit) nicht gerade auf, warum eine doppelte richterliche Prüfung nur innerhalb Europas (genauer: im Geltungsbereich des EuHb) zwingend erforderlich sein sollte, international ansonsten aber Polizei und Staatsanwaltschaft und eine eigenständige Organisation wie Interpol frei schalten und walten können. Die mit dem EuHb verbundenen Verfahrensvereinfachungen scheinen mir dabei nicht ausschlaggebend zu sein.
Im Ergebnis: Im Hinblick auf die Frage der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften (nicht nur in Deutschland) hat der Generalanwalt fraglos recht. Warum aber ein EuHb von einem sachlich und persönlich zur Gänze unabhängigen Richter erlassen werden müssen soll oder der fehlende Richtervorbehalt einen Missstand darstellt, erschließt sich mir nicht. Der praktische Gewinn wäre überschaubar (genau genommen: gleich null).