Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Ich schaue mich gerade durch die Expertenanhörung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 der Strafprozessordnung oder kurz „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“. Was für ein beknackter Name, zu dem Thomas Fischer im Spiegel bereits alles bemerkt hat und zu dem der Verfassungsblog viel Pathetisches beizutragen hatte. In der Sache teile ich das alles.

Aus Prinzip…

Anmerken möchte ich, weil mir das ein bisschen unterzugehen scheint, dass die Rechtskraft das bestimmende Merkmal der dritten Gewalt ist. Ohne Rechtskraft ist die dritte Gewalt keine Gewalt mehr, weil sie keine Staatsgewalt mehr „mit Befehl und Zwang“ gegenüber den anderen Gewalten ausüben kann. Wer muss sich schon an Urteile halten, wenn man beliebig neu verhandeln kann? Es braucht sich niemand etwas vormachen, dass hier an der dritten Gewalt gesägt wird. In Anbetracht des Umstandes, dass der bisherige § 362 StPO schon vor Inkrafttreten des Grundgesetzes galt und man diesen mitbedachte (BVerfG, Urteil vom 18. Dezember 1953 – 1 BvR 230/51 –, BVerfGE 3, 248-255, Rn. 12), ist eine Erweiterung mit dem Argument schwierig, es gäbe ja jetzt schon Ausnahmen vom Verbot der Doppelverfolgung.

Jeder der jetzt „juhu“ schreit, weil der Mörder endlich verurteilt werden kann, vergisst, dass er selbst in diese Lage kommen kann. Und dann ist wieder alles ganz ungerecht.

Ein Neuanfang …

Man stelle sich einmal vor, man selbst sei unschuldig, aber irgendwie Mitangeklagter in einem Prozess, der so läuft wie der NSU-Prozess. Es wird 5 Jahre verhandelt. Sie werden dreimal die Woche aus dem Knast früh um 6 Uhr in den Gerichtssaal zur Verhandlung um 9 Uhr gekarrt und sitzen dann da stundenlang und hören sich Sachverständige, Zeugen und Anwälte an, um dann 15 Uhr wieder zurück in den Knast gekarrt zu werden, wo sie 18 Uhr rechtzeitig zum Einschluss ankommen … 5 Jahre lang. Und dann werden sie freigesprochen, weil sie ja unschuldig waren, nach 5 Jahren.
Sie kommen wieder nach Hause. Alle Freunde haben sich mittlerweile von ihnen abgewandt. Außer zur eigenen Schwester, dem Vater und dem eigenen Anwalt hatten sie zu niemandem seit 5 Jahren Kontakt (überlegen sie mal, mit wem sie 2016 so abgehangen haben). Das Leben läuft wieder an. Sie pflegen einen kleinen Garten und wohnen in einer schicken amtsfinanzierten 40 qm Wohnung, irgendwo in Zella-Mehlis. Der eine Nachbar redet auch mit ihnen, der Rest eher nicht. Man ist nicht unfreundlich zu ihnen, aber sie merken, dass die meisten Leute aufgrund ihrer Vergangenheit eher höflich Abstand halten wollen. Eine Arbeit als Disponent haben sie nicht mehr aufnehmen können, weil es den Arbeitgebern wie den übrigen Leuten geht, lieber kein Risiko eingehen.
Dann 4 Jahre nach Abschluss des Verfahrens, sie feierten gerade ihren 40. Geburtstag, rückt das SEK erneut in ihre Wohnung ein, wirft sie auf den Boden, Handschellen, U-Haft und das Ganze kurz vor dem entscheidenden Bewerbungsgespräch. Der Nachbar, der mit ihnen nach dem Freispruch redete, war auch der einzige auf der Feier, neben ihrer Familie, und der bekam das alles mit.
Am nächsten Morgen kommt ihr Pflichtverteidiger und sagt ihnen, der alte Prozess gehe von vorne los. Man habe Beweismittel von damals neu bewertet. Die DNA-Probe eines Zigarettenstummels in Tatortnähe wies ihre DNA auf. Die konnte erst durch ein neues Verfahren gewonnen werden. Vielleicht konnte man das auch beim ersten Mal schon, aber einen Fehler könne man dem Labor nicht nachweisen und der Zweifelssatz gilt in diesem Fall leider nicht. Der Beweis ist zwar dünn, der Generalstaatsanwalt ist aber der Meinung, dass nunmehr eine Verurteilung zu erwarten steht. Wie die Zigarette dahingekommen ist, können sie sich nicht erklären. Möglicherweise waren sie in Tatortnähe, dass wissen sie aber 9 Jahre nach dem Vorfall nicht mehr. Ihr Anwalt sagt ihnen, dass es ohne plausible Erklärung schwierig werden könnte. Sie hören aber schon nicht mehr richtig zu. 5 Jahre erneuter Prozess … denken sie. Hätte ich damals einfach gestanden, wäre ich am Ende dieses Prozesses schon wieder auf Bewährung draußen …

Ein Ausblick…

Nun wird durch das Gesetz natürlich nicht die Rechtskraft in Gänze aufgehoben. Auch kann man nicht beliebig neu verhandeln. Die dritte Gewalt funktioniert auch nach dem Gesetz noch, nur eben nicht mehr so sehr für diejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die des Mordes beschuldigt werden. Für die gibt es viel weniger gerichtliche Kontrolle … hier entscheidet nur noch die Exekutive wann es genug ist.

Jeder, der heute Eide schwört, es handle sich um eine »ganz begrenzte Ausnahme«, weiß genau, dass spätestens in zwei Jahren die nächsten Erweiterungen folgen werden. Warum auch nicht?

Thomas Fischer – SPIEGEL 24.06.2021

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