Ich habe hier gerade einen Verkehrsunfall auf dem Tisch. Das ist Alltag an den Amts- und Landgerichten; mir macht das trotzdem immer noch Freude. Ein echtes Goldstück zur Bewältigung von Verkehrsunfällen wurde mir im Referendariat von meinem damaligen Ausbildungsrichter in der Zivilstation mit den Worten empfohlen:
Hier, lies das! Danach hast du Verkehrsunfälle in 95 % aller Fälle drauf.
Ein unbenannter Ausbildungsrichter des Landgerichts Leipzig
Recht hatte er. Es handelt sich um folgenden Aufsatz: Thomas Schauseil Die Abwägung der Verursachungsbeiträge nach einem Kfz-Unfall, MDR 2008, 360-364. Sollte man bei Juris finden. Der Beitrag ist zwar schon 10 Jahre alt, an der Systematik hat sich aber nichts geändert.
Im Rahmen der zivilrechtlichen Streitigkeiten wird man regelmäßig auch auf die schon abgeschlossenen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zurückgreifen können, so es welche gab. In meinem Fall ist das so. In der beigezogenen Strafakte finde ich eine vorgedruckte Antwort, die die Polizei auf die Akteneinsichtsgesuche der unterschiedlichen Beteiligten (im weiteren Sinne) hin übersendet:
Der Vorgang in der Unfallsache … mit der Tagebuchnummer … des Polizeireviers … wird an die Staatsanwaltschaft … abgegeben.
[x] Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Somit kann eine Akteneinsicht – aus Gründen der Unvollständigkeit – gegenwärtig noch nicht gewährt werden. Wir fügen Ihren Antrag der Ermittlungsakte bei und leiten diesen nach Abschluss der Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft …weiter. Diese gewährt Ihnen dann zu gegebener Zeit die gewünschte Akteneinsicht.
[ ] …
Das ist in mehrerer Hinsicht überarbeitungsbedürftig.
- Die Polizei schließt keine Ermittlungen ab, das kann nur die Staatsanwaltschaft, § 169a StPO.
- Die „Vollständigkeit“ oder „Unvollständigkeit“ der Akten hängt nicht vom Stand der Ermittlungen ab. Ich weiß gar nicht so richtig wie ich das kurz auf den Punkt bringen soll … Die Akten sind im Grunde immer vollständig, auch wenn da nur eine Strafanzeige am Anfang drin steckt. Trotzdem ist die Akte zum Zeitpunkt x vollständig. Nur wenn jemand etwas der Akte entnimmt, wird die Akte unvollständig. Deswegen sind die Aktenteile auch zu blattieren (also mit einer Blattnummer zu versehen). So kann man nachvollziehen, ob die Akte fortlaufend „vollständig“ ist (davon gibt es Ausnahmen, auf die es hier aber nicht ankommt, beispielsweise wenn nachträglich ein Zustellnachweis eingeht; dieser ist dem zugestellten Dokument unmittelbar nachzuheften).
- Die Polizei meinte mit „unvollständig“ aber sicher, dass die Ermittlungen eben noch andauern und daher keine Einsicht genommen werden kann. Aber auch das ist nicht richtig: § 147 Abs. 2 StPO bestimmt, dass dem Verteidiger die Akteneinsicht verwehrt werden kann, wenn die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind (siehe oben 1.) und die Ermittlungen durch die Akteneinsicht gefährdet wäre. Für Dritte, die Einsicht nehmen wollen, gilt § 475 StPO bzw. für den Verletzten § 406e StPO. Bei all diesen Vorschriften kann aber Akteneinsicht auch schon im Ermittlungsverfahren gewährt werden (was praktisch kaum vorkommt), sie muss es aber nicht.
- Aus den gerade zitierten Vorschriften ergibt sich auch, dass die Staatsanwaltschaft nicht jedem Akteneinsicht gewähren muss. Sie muss es dem Beschuldigten; aber nicht zwingend Dritten. Warum die Polizei in ihrem Schreiben also verspricht, dass die Staatsanwaltschaft zu gegebener Zeit Akteneinsicht gewährt, erschließt sich nicht.
>> Es handelt sich um folgenden Aufsatz: Thomas Schauseil Die Abwägung der Verursachungsbeiträge nach einem Kfz-Unfall, MDR 2008, 360-364. Sollte man bei Juris finden
Der Autor selbst hat den Aufsatz auch zur Verfügung gestellt:
https://www.schauseil.eu/haftungsabwaegung-vorbeifahren-an-einem-hindernis-vs-ueberholen/
siehe unten:
„Download des Aufsatzes (mit freundlicher Genehmigung des Verlages Otto Schmidt, Köln) Aufsatz_Schauseil_MDR_08_360“